Ich blicke in seine braunen, freundlichen Augen und eine Woge der Freude erfasst mich, als er meinen Blick erwidert, auch wenn er ihn schnell wieder abwendet, um voran zu laufen. Ich lächle, als ich die roten Blätter unter seinen Füßen knirschen höre, und könnte in diesem Moment kaum glücklicher sein. Selbst, wenn wir uns gerade nicht unterhalten, hat dieser Moment etwas unglaublich vertrautes. Ich frage mich, ob er das auch so sieht, oder ob ich mit diesem Gefühl alleine bin. Ist er genauso gerne mit mir zusammen, wie ich mit ihm?
Schwer atmend setze ich meinen Weg fort und versuche, ihn einzuholen. Er ist deutlich schneller als ich und verfügt über viel mehr Ausdauer. Meine Lunge brennt und ich habe Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Was würde ich jetzt für ein Glas Wasser geben. Ich huste und rufe seinen Namen. Er bleibt stehen und sieht mich abwartend an. Entschuldigend lächle ich ihn an, in der Hoffnung, dass er mir mein lahmes Vorankommen verzeiht. Er ist sportliche Aktivitäten in den Bergen gewöhnt, ich dagegen bin lieber in der Stadt unterwegs. In diesem Punkt sind wir ziemlich verschieden, aber das ändert nichts daran, dass mir regelmäßig das Herz aufgeht, wenn ich ihn sehe. Er sieht aus, als würde er mich anlächeln und das gibt mir die Kraft, schneller zu werden und das Stechen in meiner Seite zu ignorieren. Er ist so stürmisch wie der Wind im Herbst, der die Blätter von den Bäumen fegt und Platz für Neues macht. Für ihn quäle ich mich gerne Tag für Tag über Hügel und Steine, wenn es ihn glücklich macht.
Als ich ihn erreiche, bleibt er an meiner Seite, kuschelt sich kurz an mich und setzt dann seinen Weg in deutlich langsamerem Tempo fort. Zufrieden grinse ich, als ich höre, dass auch er schon schwerer atmet.
„Na? Ist wohl nicht nur für mich anstrengend, was?“, frage ich, obwohl ich weiß, dass er mir nicht antworten wird. Das macht nichts. Er ist trotzdem mein bester Freund und daran wird sich nie etwas ändern. Auch, wenn ich mir manchmal wünschen würde, er könnte mir antworten und sich mit mir unterhalten. Aber wer weiß, ob wir uns dann auch so gut verstehen würden. Vielleicht machen diese einseitigen Gespräche ja auch gerade den besonderen Reiz unserer Freundschaft aus. Denn selbst, wenn er mir nicht antwortet, weiß ich, dass er mich versteht. Und ich verstehe ihn, dafür brauche ich keine Worte. Ich weiß, wann er Hunger hat, wann er traurig ist und wann er sich freut. Er braucht keine Worte, um sich mir mitzuteilen, das kriegt er auch so hin.
Ich streichle über seinen Kopf und genieße seine Anwesenheit. Wenn ich mit ihm zusammen bin, schaue ich nicht auf die Uhr und nehme keine Anrufe an. Die gemeinsame Zeit mit ihm möchte ich einfach nur genießen. Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. Er erwidert es, indem er mir ein feuchtes Küsschen auf die Wange schmatzt. Ich kichere. Ich wollte nie Mutter sein und Verantwortung übernehmen. Nun habe ich ihn und alles hat sich verändert. Ich bin fürsorglicher als früher, aufopferungsvoller. Ich glaube, dieser kleine Kerl hat mich tatsächlich zu einem besseren Menschen gemacht. Und obwohl ich nie Mama sein wollte, gehe ich mit ihm regelrecht in dieser Rolle auf.
„Was würde ich nur ohne dich machen, mein Großer?“, frage ich und streiche ihm über das weiche Fell. Er sieht mich kurz verständnislos an und rennt dann weg, um kurze Zeit später mit einem Stock im Mund wiederzukommen. Ich lache. Natürlich hat er mir nicht irgendein kleines Stöckchen gebracht. Nein, es musste ja fast schon ein ganzer Ast sein. Mein Hund macht keine halben Sachen.
Ich nehme ihm den Stock ab und halte ihn nach oben. Er weiß, dass er ihn mir nicht entreißen kann, aber er versucht es trotzdem immer wieder und hat seinen Spaß dabei. Und ich auch. Er sieht so süß dabei aus, wie er erfolglos auf und ab hüpft und ehrgeizig weitermacht, bis ich ihm das Stöckchen werfe, so weit ich kann. Wie immer ist mein Wurf nicht der Weiteste, aber das nimmt er mir nicht übel. Er bringt mir das Wurfgeschoss einfach immer wieder und ich werfe es ihm so lange, bis er komplett ermattet in einen raschelnden Blätterhaufen fällt. Lächelnd setze ich mich auf eine Bank in seiner Nähe und beobachte ihn.
Seit er als Welpe zu mir kam, kaum größer als ein Säckchen Reis, hat er so viel Freude in mein Leben gebracht. Jetzt ist er schon zwei Jahre alt und deutlich größer, und noch immer bin ich dankbar für jeden Tag, den ich mit ihm verbringen darf. Er hat sich wieder von unserem Spiel erholt und kommt mit dem zerkauten Stöckchen zu mir. Obwohl es komplett vollgesabbert ist, nehme ich es ihm ab. Ich stehe auf.
„Na komm, mein Großer. Ab nach Hause.“
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Das war Tag 2 unserer 7 Tage, 7 Stories Challenge. Und, zugegeben, heute fiel es mir schon schwerer als gestern. Ich bin sehr gespannt, was die nächsten Tage noch bringen werden. Wie gefällt euch unser Schreibprojekt? Den Text von Kathi könnt ihr hier lesen.
Wenn ihr gerne mitmachen möchtet, könnt ihr jederzeit gerne einsteigen! Postet mir einfach den Link zu euren Beiträgen in die Kommentare und ich verlinke euch unter meinen Posts 🙂
Eure Julie,
Die mit dem roten Lippenstift
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