Eine traurige Nachricht für meine Fans: Ich gebe die Schreiberei auf und werde mich fortan nur noch meiner Modelkarriere widmen. Naja, oder so ähnlich. Da ich in diesem Leben ohne hohe Schuhe nicht mal mehr die 1,70 Meter Marke knacken werde und jeder, der mich anspricht, um sein Leben bangen muss, wenn ich Hunger habe, scheidet eine Karriere als Victoria’s Secret Engel für mich definitiv aus. Abgesehen davon, dass ich es nicht erfüllend fände, für mein Aussehen bezahlt zu werden. Ich meine, ist ja schön, wenn manche Leute die genetische Lotterie geknackt haben, aber so eine berauschende Leistung ist das auch wieder nicht. Klar, Schönheit vergeht und man muss sie sich erhalten und so Zeug. Hinter einem perfekten Körper stecken meist harte Arbeit und viel Disziplin. Manchmal aber auch ein perfekter Stoffwechsel, der gerne mal mit dem Satz „Ich kann so viel essen, wie ich will, ich nehme einfach nicht zu“ einhergeht. Diese Menschen müssen dafür ständig damit rechnen, völlig unerwartet einen Schlag in die Fresse zu bekommen. Ausgleichende Gerechtigkeit nenne ich das.
Dass ich nicht dem klassischen Schönheitsideal entspreche, hielt meine Arbeitskollegen dennoch nicht davon ab, mich kurzzeitig als Model zweckzuentfremden. Aber da es um meinen eigenen Artikel ging, war ich natürlich gerne bereit, mein Gesicht dafür zur Verfügung zu stellen. Es ging um das Thema Selfies. Dafür bin ich extra zu einem eigens dafür veranstalteten Workshop gegangen, um mir Tipps dazu geben zu lassen – die ich als alter Selfie-Hase natürlich schon kannte, immerhin vergeht bei mir kaum ein Tag ohne Selbstportrait (ja, ich gebe es zu, da bin ich leicht narzisstisch). Zeitverschwendung war es trotzdem nicht, denn es war so ziemlich der coolste Dienstgang, auf dem ich jemals war. Nicht, dass bei meinen drei bisherigen Dienstgängen ein großer Konkurrenzkampf herrschen würde. Aber ich muss sagen, es war wirklich ein interessanter Nachmittag. Ist ja auch immer spannend, zu hören, was Profis in den Bereichen Fotografie und Internetsicherheit so zu sagen haben. Ich wusste beispielsweise nicht, dass man sich auch auf dem Handy die Frontkamera abkleben sollte (ja, das wurde bei einem Selfie-Workshop erzählt. Womit wir wieder das Thema Ironie anschneiden), weil sich Hacker darauf Zugriff verschaffen könnten. Habe ich bisher auch keinen Gedanken daran verschwendet. Und ehrlich gesagt, finde ich, wenn jemand sich wirklich in meine Frontkamera hackt, um meine komischen Fratzen zu sehen, die ich immer schneide, wenn ich mich unbeobachtet fühle, dann ist derjenige selber schuld, wenn er den Schock seines Lebens bekommt – schöne Bilder von mir gibt’s nur auf Instagram. Oder hier. Ich verfluche mich übrigens dafür, dass ich bei der Gelegenheit nicht gefragt habe, wie es mit dem Mikrofon aussieht. Ich singe leidenschaftlich gerne, aber leider nicht besonders gut. Wenn ich nur daran denke, dass sich jemand Zugriff auf mein Mikrofon verschafft, während ich mir im Auto bei Durch den Monsun die Seele aus dem Leib interpretiere, bekomme ich schon Gänsehaut und das nicht von meinem schönen Gesang. Tatsächlich saß ich heute ganz paranoid im Auto und dachte mir bei den hohen Tönen: „Boah, hoffentlich ruft mich jetzt niemand an und meine Tasche nimmt den Anruf an…“
Auch wenn dieser Selfie-Artikel ein wenig Paranoia bei mir geschürt hat, so war er doch bisher mit Abstand mein liebstes Projekt. Nicht nur, dass das Thema voll nach meinem narzisstischen Geschmack war, es war mir sogar erlaubt, nicht allzu seriös zu schreiben. Wer mich etwas besser kennt, weiß, dass mich kaum etwas so sehr langweilt, wie todernste, trockene Texte zu verfassen. Zwar komme ich da auch nicht immer drum herum, aber solange es Auflockerungen wie diese gibt, komme ich gut damit klar. Ich finde ja, dass man so ziemlich jedes Thema cool aufbereiten kann, wenn man nur ein paar sprachliche Möglichkeiten dazu hat. Dann kann man Leute sogar für das Thema Sicherheit im Netz begeistern.
Als der Drucktermin für das Magazin, in dem der Artikel erschienen ist, näher rückte, sagte meine Kollegin plötzlich: „Julie, wir brauchen noch ein Foto für deinen Selfie-Artikel. Ich würde sagen, sobald einer der Fotografen im Haus ist, schnappen wir uns den und machen ein Foto von dir beim Selfie machen.“
Ich verschluckte mich fast an meinem Tee, als ich das hörte. Das bedeutete für mich, dass die ganze Stadt mein Gesicht kennen würde. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich mit Recherche. Ich musste unbedingt wissen, ob mein Gehalt für Essen, Benzin und einen Bodyguard reichen würde. Wenn ich entscheiden müsste, ob ich lieber mein Leben (beziehungsweise das meiner Mitmenschen), meine Liebe zur Umweltverschmutzung oder meine körperliche Unversehrtheit aufgeben würde, hätte ich einen intrapersonellen Interessenskonflikt. Als ich mit meinen Überlegungen nicht weiterkam, tat ich das, was ich sonst auch immer tat: Ich ging aufs Klo und legte dort eine kurze Meditationsrunde ein. Dann ging ich im Kopf durch, wie hoch die Wahrscheinlichkeit wäre, dass mich jemand wiedererkennen würde. Erst nachdem ich mich selbst davon überzeugt hatte, dass diese Wahrscheinlichkeit ungefähr bei 0,1 lag – dass sie doch so hoch ist, liegt nur daran, dass ich Freunde und Familie habe, die dieses Magazin in die Finger kriegen könnten – stimmte ich zu. Ich würde meine Komfortzone verlassen und meinem Artikel ein Gesicht verleihen.
In dieser Woche tauchte kein Fotograf mehr auf. Da das Magazin am Montag in Druck ging und bereits Freitag war, regte sich in mir die leise Hoffnung, dass wir einfach ein Shutterstock-Foto drunter hauen und den Auftakt meiner Modelkarriere vertagen würden. Da hatte ich jedoch die Rechnung ohne meine Kollegen gemacht. Mein Redaktionskollege hat nämlich auch eine gute Kamera und Fotografieerfahrung. Scheiße gelaufen.
„Na, Julie, du und ich in zehn Minuten am Männerklo?“, fragte er grinsend.
„Nichts lieber als das“, antwortete ich gequält.
Gesagt, getan. Aus dem Männerklo wurde dann doch das Behindertenklo. Dort hatten wir mehr Platz und ich geriet nicht in die Verlegenheit, meinen männlichen Kollegen beim Pinkeln zuzusehen. Ich glaube, das hätte meine zukünftige Arbeit und vor allem das Verhältnis zu meinen Kollegen auf ewig beeinträchtigt. Aus zwei Personen wurden außerdem drei. Wir mussten noch eine Türsteherin engagieren, die dafür sorgte, dass mein Kollege beim Fotografieren nicht von der zufallenden Türe erschlagen wurde. Wäre ja schade um das hübsche Foto gewesen, hehe.
Aus einer Fotosession am Behindertenklo wurden ebenfalls drei. Bei der ersten war der Seifenspender unschön im Bild, bei der zweiten wurde ich von rechts fotografiert und das ist definitiv nicht meine Schokoladenseite.
„Ich habe ein fettes Gesicht von rechts“, klagte ich, als wir uns die Fotos auf dem Computer ansahen. „Das finde ich ganz schlimm, meine Schokoladenseite ist links.“
„Ist aber gut, wenn man das weiß“, meinte meine Kollegin.
„Was ist denn deine Schokoladenseite?“, fragte mein Kollege sie daraufhin.
„Hinten.“
„Julie, sollen wir dich auch lieber von hinten fotografieren?“
„Ne, von links reicht. Aber bitte nicht von rechts. Schau mal, wie fett mein Gesicht da aussieht. Das kann man so nicht drucken, ich sehe aus wie ein Gesichtskrapfen.“
„Also auf ein Neues. Diesmal von links.“
Gut, gingen wir halt nochmal zu dritt aufs Klo. Dann hatten wir halt wieder das Problem mit dem Seifenspender. Da wir aber zum Glück kreative Menschen sind, holten wir uns Hilfe von einem Hocker, auf den ich mich stellte. Dass der Hocker eine relativ kleine Sitzfläche hatte und ich Stiefel mit Absatz trug, machte aus dem Aufstieg ein ziemliches Abenteuer.
„Oh mein Gott, soll ich dich halten? Nicht, dass du runterfällst!“, sagte meine Türsteherkollegin und mir ging das Herz auf. Die Leute machten sich Sorgen um meine Gesundheit. Gibt es denn ein größeres Kompliment? Abgesehen natürlich von einem aus dem tiefergelegten 3er-BMW gerufenen und mit einem Pfiff untermalten Balzruf, der sich entfernt nach „Geiler Arsch!“ anhört. Ich kenne keine Frau, die nicht auf so etwas abfährt.
Endlich hatten wir eine Position gefunden, bei der uns kein Einrichtungsgegenstand im Weg war. Dann blieb nur noch ein Problem: Mein Gesicht. Ich kann Selfies machen, ja. Aber wenn mich jemand anderer fotografiert, habe ich keine Ahnung, wie ich dreinschauen muss, ohne komplett bescheuert auszusehen. Für so etwas könnte ich einen Lehrgang gebrauchen.
„Mach mal ein anderes Gesicht“, sagte mein Kollege dann freundlicherweise. „Schneid mal eine Grimasse oder so. Irgendwas Lustiges.“
Auch, wenn mir der Fotograf beim Selfie-Workshop strikt davon abgeraten hatte, und ich mich auch schlecht dabei fühlte, seinen Rat so mit Füßen zu treten, war das erste, was mir einfiel, das berühmte Duckface.
„Ja, genau, das ist cool!“, hörte ich, was mich dazu verleitete, die zweite Tabupose einzunehmen: Ich streckte meine Zunge raus.
Ins Heft geschafft hat es dann das Duckface. Klassiker gehen halt immer. Als ich dann das gedruckte Magazin in den Händen hielt, war ich richtig erschrocken darüber, wie ich aussehe. Aber immerhin bin ich nicht von rechts drauf.
Übrigens lag ich mit meiner Wahrscheinlichkeitsrechnung richtig. Letztes Wochenende war ich mit meinen Eltern frühstücken und besetzte schon mal einen Platz. Neben meinen Tisch saß ein Mädchen, das eben dieses Magazin durchblätterte.
Ich beugte mich zu ihr rüber und raunte ihr verschwörerisch „Seite 72“ zu. Sie sah mich verwirrt an, schlug aber dennoch die Seite auf.
„Oh, danke. Ich mache eh so gerne Selfies“, war ihr einziger Kommentar. Ich wollte sie schon fragen, ob ihr nichts auffiel, tat es dann aber doch nicht. Immerhin musste ich meine Privatsphäre wahren. In meinem Briefkasten ist nicht genug Platz für Fanpost. Dafür gibt’s aber immer noch die Kommentarfunktion auf WordPress. Was bin ich dafür dankbar.
Eure Julie,
Die mit dem roten Lippenstift (die trotz Zeitungsauftritt immer noch nicht berühmt ist)
derhilden
• 8 Jahren agoBei dem Balzruf fehlt aber noch das obligatorische auf den Boden spucken! Was bei einem fahrenden Auto dazu führen könnte, dass sich derjenige auf die Karre spuckt, was natürlich besonders souverän und anziehend auf Frauen wirkt!
Ich hab das mit der Kamera beim Laptop und Smartphone auch schon oft gehört. Wer freiwillig meine Webcam hacken sollte, wird entweder sofort sterben (halte ich für am wahrscheinlicheten), tritt sofort die Flucht an oder ist ein Masochist. Insofern halte ich das für recht unwahrscheinlich. 😀
diemitdemrotenlippenstift
• 8 Jahren agoOh danke für den Hinweis, das sollte ich updaten 😀
Eben das dachte ich mir auch 😀
Noeirie
• 8 Jahren agoSüsser und einfach witziger Artikel!
diemitdemrotenlippenstift
• 8 Jahren agoDanke 🙂