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Blätter / 7 Tage, 7 Stories

Der Wind fegt den Haufen beschriebener Blätter in meiner Hand zu Boden. Fluchend bemühe ich mich, sie wieder einzusammeln. Doch Windsbruck zeigt sich heute mal wieder von seiner besten Seite und der Föhn wirbelt die bereits zu Boden gegangenen Zettel immer weiter von mir weg.

„Scheiße!“, entfährt es mir. Ich brauche diese Blätter. Ohne sie werde ich mein Zeugnis nicht beantragen können. Und das will ich heute unbedingt machen, koste es, was es wolle. Egal, wie verdreckt das Papier anschließend sein wird, ich werde diese Zettel abgeben. Meine Kopierkarte habe ich pünktlich zu Ende des Semesters aufgebraucht, weshalb ich meine Dokumente noch nicht mal neu ausdrucken kann, es sei denn, ich finde jemanden, der mir aushelfen kann. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Das Prüfungsreferat schließt in zwanzig Minuten und ich sollte seit zehn Minuten in der Arbeit sitzen.

Aufgrund meines Zeitdrucks entscheide ich mich für den schnelleren, aber riskanteren Weg. Zwei der verloren gegangenen Blätter haben ihren Weg bereits auf die befahrene Hauptstraße vor der Uni gefunden. Ich zögere nicht lange und laufe zu dem Blatt, das sich näher bei mir befindet. Ein Auto hupt mich an, der Fahrer zeigt mir den Mittelfinger. Ich muss mich zusammenreißen, um seine Geste nicht zu spiegeln. Sieht der nicht, dass ich hier in wichtiger Mission unterwegs bin? Ich begutachte sein Auto. Er fährt einen tiefergelegten Dreier-BMW mit aufgeklebten Rennstreifen und einem Sticker mit der Aufschrift „Chantal an Bord“, was mich wiederum darauf schließen lässt, dass er in seinem Leben noch keine Uni von innen gesehen hat. Also verzeihe ich ihm.

Ich schnappe mir den Zettel, den ich gerade erreiche und stopfe ihn zufrieden in meine Handtasche. Gut, fehlt nur noch einer. Ich richte mich auf und lasse meinen Blick über die Straße schweifen. Verdammt, wo ist denn nur dieser blöde Zettel hin? Ein weiterer kräftiger Windstoß, wie ihn nur Innsbruck zustande bekommen würde, weht mir meine Haare so ins Gesicht, dass sie mir die Sicht verschleiern. Hatte ich eigentlich schon immer so viele Haare? Ein blonder Schleier liegt vor meinen Augen und der Wind bläst so stark, dass ich sie kaum zurückhalten kann. Gerade heute hat sich das Wetter natürlich gegen mich verschworen. Es ist, als würde mir irgendjemand nicht gönnen, dass ich mein Studium abschließe.

Da! Ich habe das fehlende Puzzleteil gesichtet, das meinen Studienerfolgsnachweis komplettiert. Ohne Rücksicht auf Verluste fange ich an, zu rennen, nachdem ich mich vergewissert habe, dass dieser Lauf nicht mit meinem Tod enden könnte. Über Leichen gehe ich für diesen Bachelor dann doch nicht. Schon gar nicht über meine eigene.

Als ich so über die Straße renne, bekomme ich plötzlich einen Ohrwurm von Linkin Parks „The Catalyst“ – mein liebstes Jogginglied. Ich finde, wenn man dieses Lied hört, fühlt man sich plötzlich so verfolgt, dass man unweigerlich beginnt, schneller zu laufen. Genau das brauche ich jetzt, bevor der Wind schon wieder zuschlägt.

Die Passanten um mich herum starren mich an, als sei ich verrückt. Auf die Idee, mir zu helfen, kommt natürlich niemand. Typisch Innsbruck. Ich verdrehe die Augen, als ein pubertierendes Pickelgesicht sein Handy aus der Hosentasche zieht und zu filmen beginnt, und schäme mich unweigerlich für meine Generation. Wann haben wir gelernt, Moral und Anstand gegen Apps und Hilfsbereitschaft gegen Likegeilheit zu tauschen? Solchen Menschen wünsche ich immer, dass sie der Blitz beim Kacken trifft.

Bevor ich mich aber weiter über Dinge ärgere, die ich eh nicht ändern kann, bemühe ich mich lieber, das herumfliegende Blatt zu erreichen. Ich stürze mich auf die Straße und werde erneut wütend angehupt. Blöderweise ist direkt neben der Uni eine Polizeistation, weshalb ich einfach ein Stoßgebet zum Himmel schicke, dass jetzt nicht gerade irgendein Officer raustritt und mich verhaften lässt, weil ich die öffentliche Ordnung gefährde oder so einen Schwachsinn. Solange man Menschen mit einem Kennzeichen aus Imst oder irgendwelchen anderen ländlichen Bezirken hier in der Stadt fahren lässt, ist hier sowieso keiner sicher.

Meine Lunge brennt, aber ich gebe nicht auf. Ich nähere mich meinem umherfliegenden Blatt mit großen Schritten und als es vom Wind direkt auf die Höhe meiner Nasenspitze getragen wird, greife ich es mir und stoße einen spitzen Jubelschrei aus. Dann zeige ich der filmenden Eiterschleuder den Mittelfinger. Sollen die Leute auf YouTube ruhig sehen, dass ich nicht freiwillig zum Star wurde.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch zehn Minuten habe, bevor das Prüfungsreferat schließt. Beschwingten Schrittes gehe ich auf die Drehtür zu. Die einzelnen Blätter, die jetzt noch über die Straße geweht werden, sind die, von denen sich die Bäume langsam freiwillig trennen.

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Wir haben Halbzeit! Die vierte Geschichte ging gerade online und ich mache mich jetzt mit Hochdruck daran, die restlichen drei zu schreiben, da ich in den nächsten Tagen umzugsbedingt nicht schreiben werde können – ja, ich beglückwünsche mich mal wieder selber zu meinem Timing. Aber ich bemühe mich, die restlichen Geschichten fristgerecht zu liefern!

Eure Julie,

Die mit dem roten Lippenstift

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