Ich möchte den heutigen Blogpost mit einem Fun Fact über mich beginnen. Besonders lustig ist er nicht, aber wenn wir ehrlich sind, sind Fun Facts das eh nie. Ich glaube, niemand hat jemals bei der Enthüllung eines Fun Facts laut aufgelacht und gesagt: „Na, die Christine ist ja wirklich eine ganz Verrückte!“
Jut, ick verliere mich. Also mein Fun Fact: Ich wohne seit über zwei Jahren in Wien und war dort noch nie beim Hausarzt. Wenn es mir mal schlecht ging, war mein Patentrezept: Ibuprofen einwerfen und hoffen. Aber irgendwann geht diese Rechnung nicht mehr auf. Dieser Punkt war diese Woche erreicht. Stichwort Gastritis-Magen-Darm-Fieber-Scheiße. Ja, das ist der offizielle Name dieser Krankheit.
Kurz gesagt: Ich habe mir diese Woche endlich eine Hausärztin gesucht. Und spätestens, als die Arzthelferin „Stellen Sie sich bitte mal auf die Waage“ sagte, wusste ich auch, warum ich das so lange hinausgezögert habe.
„Bitte was?“, frage ich, nur um sicherzugehen, dass sie nicht einfach nur „Haben Sie gerade Ihre Tage?“ gesagt hat. Aber leider, ich habe mich nicht verhört. Diskutieren hilft leider nur wenig, deshalb muss ich mich raufstellen.
„Können Sie bitte schauen?“, bitte ich die Arzthelferin. „Ich möchte es nicht wissen.“
Sie sieht an mir vorbei auf die Anzeige.
„72“, sagt sie, meine Bitte komplett ignorierend. „Zwei Kilo ziehen wir für Kleidung und Schuhe ab. Also 70.“
Blöde Sau, denke ich. Das steht da fix nicht. Du willst mir nur eins reinwürgen, weil ich dir zusätzliche Arbeit gemacht habe.
Ich habe doch niemals 70 Kilo. So viel habe ich nicht mal gewogen, als ich noch drei Hosengrößen mehr hatte. Das kann also gar nicht sein. Gegen meinen Willen muss ich doch hinsehen. Schon allein, um sicherzugehen, dass die inkompetente Arzthelferin mir keine Scheiße erzählt.
Doch da steht es. Schwarz auf Weiß. Und da hilft auch kein Baucheinziehen. Die Nadel steht stabil auf der 72.
Na und? Ist doch nur eine Zahl! Und überhaupt, in so Arztpraxen sind doch wirklich alle Waagen beschissen geeicht. Kratzt mich überhaupt nicht.
Okay, es kratzt mich. Kratzen ist noch ein Euphemismus. Es juckt, als wäre ich in einen Ameisenhaufen gefallen. Schlagartig sitze ich nicht mehr in einer Arztpraxis, sondern wieder in der sechsten Klasse Gymnasium im Hauswirtschaftsunterricht, als unsere Lehrerin, nebenberuflich Sadistin, uns unseren BMI ausrechnen und vor der ganzen Klasse vorlesen ließ – und ich, damals in die Kategorie „pummelig“ fallend, die Einzige war, deren BMI jenseits der 20 lag.
„Julia, dein BMI?“, fragte sie.
„22“, murmelte ich, so leise wie möglich.
„Glaube ich dir nicht. Dein BMI ist höher“, sagte sie und ich spürte die Blicke der gesamten Klasse in meinem Rücken und die Tränen in meinen Augen. (Falls Sie das gerade lesen, Frau H.: Es gibt Menschen, die erholen sich nie mehr von so einem Kommentar – oder generell davon, als Teenager gezwungen zu werden, seinen BMI vor der Klasse zu offenbaren. Vielleicht mal drüber nachdenken, ob diese sadistische Unterrichtspraxis wirklich notwendig ist.)
Ich atme tief durch. Ich bin nicht mehr 15 und auch nicht mehr in der Schule. Ich bin fast zehn Jahre älter und werde nie wieder eine Schule von innen sehen. Da kann ich doch wohl mit so einer läppischen Zahl umgehen.
BMI Rechner online tippe ich in Google ein und rechne meinen angeblichen BMI aus. 24,8. Leichtes Übergewicht.
Ich habe doch kein Übergewicht! Ich trage seit Jahren eine stabile Größe 36/38, das ist doch wohl sowas von normal!
Mama, sehe ich übergewichtig aus?, tippe ich eine Nachricht.
Du bist perfekt so, wie du bist!, kommt sofort als Antwort.
Im Ernst? Das ist, als hätte man ein Tinder-Date, das nur Gruppenfotos auf seinem Profil hat und sich beim Treffen als der Hässliche entpuppt und den man dann auf die Frage, wie man ihn denn fände, mit „Ach, ich glaube, du hast einen wundervollen Sinn für Humor“ abschmettern muss. So eine Scheiße. Am liebsten würde ich mein Handy wegwerfen und losheulen.
Das schauen wir uns das an, wenn du das nächste Mal da bist!, kommt noch eine Nachricht von Mama.
DU HAST MICH DOCH GERADE VOR DREI TAGEN GESEHEN, will ich schreien.
Ich weiß nur, dass du in deiner Sporthose super aussiehst!, versucht Mama, noch etwas zu retten.
Ja und in allen anderen Hosen nicht, oder was?
Okay. Cool bleiben. Ich habe ja heute schon mindestens einen Liter Wasser getrunken. Was gegessen habe ich auch. Wenn man mich nüchtern gewogen hätte, wäre ich also schon mal mindestens eineinhalb Kilo leichter.
Auf der Toilette war ich auch noch nicht, also ziehen wir nochmal … wie viel genau ab? Was wiegt denn so eine Kacke? Ich bin kurz davor, Kot Gewicht zu googeln, habe aber zu viel Angst, dass mir dann in Zukunft seltsame Dinge auf Amazon vorgeschlagen werden. Ziehen wir einfach mal optimistisch noch ein halbes Kilo ab.
Dann habe ich ja auch sehr lange Haare, die haben auch ein Gewicht … fuck, ich war gestern beim Sugaring, jetzt kann ich’s nicht mal darauf schieben.
Naja, Sport habe ich im letzten Jahr ja auch so viel gemacht wie noch nie in meinem Leben. Da wird doch sicher das eine oder andere Kilo Muskelmasse dabei gewesen sein, oder? ODER?!
Wie gerne würde ich euch jetzt etwas zum Thema Selbstbewusstsein, Girlpower und Bodypositivity erzählen und dass ich heute schon wieder herzlich über die Situation lache, weil es ja wirklich nur eine unwichtige Zahl ist, die objektiv gesehen in keinerlei Zusammenhang mit mir als Person und meiner Lebenszufriedenheit steht.
Aber ich will niemanden anlügen. Diese kleine Zahl hat mich mehr beschäftigt, als sie sollte. Ich war in den letzten Tagen sehr anfällig für Artikel über Crash-Diäten, habe mich überkritisch im Spiegel betrachtet und war fast schon froh, dass ich durch meine Gastritis-Magen-Darm-Fieber-Scheiße kaum etwas essen konnte.
Ich weiß, dass es so viel größere Probleme auf dieser Welt gibt als so eine Zahl auf der Waage. Aber ich weiß auch, dass es vielen Frauen da draußen ähnlich geht wie mir und es macht mich traurig, dass wir oft so grausam zu uns selbst sind. Leider habe ich selbst noch kein Patentrezept dagegen gefunden und ich fürchte, eine Ibuprofen wird da auch nicht helfen. Einen Tipp kann ich euch aber geben: Wechselt nie den Hausarzt.
Eure Julie,
die mit dem roten Lippenstift
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Alinskaja
• 5 Jahren agoIch würde ja gerne schreiben, wieder so ein unterhaltsamer Post, aber irgendwie kommt mir das falsch vor. Was ich dir aber sagen möchte, dass ich dich sehr gut verstehen kann und selbst durch deinen Post schon wütend auf die Arzthelferin und die Lehrerin wurde. Vermutlich kann jede Frau eine Situation aus ihrem Teenageralter erzählen, in der sie für ihr Gewicht runtergemacht wurde. Das ist total schade! Überhaupt, dass wir uns so viele Gedanken über eine Zahl machen, immer wieder sagen, dass sie nicht wichtig ist, aber wenn wir mal ehrlich wären: Sie ist wichtig. Einige meiner Freunde sind an einer Essstörung erkrankt und ich habe diesen immer wieder gesagt, dass es nicht wichtig ist. Ja, würde ich da mal für mich selbst dran glauben, wäre ich auch ein Schritt weiter.
Liebste Grüße